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Meine Selbsterkenntnis

Selbsterkenntnis ist ein Meilenstein, den ich auf einem Weg erreicht habe. In diesem Artikel beschäftige ich mich mit meiner Reise. Eine Reise die ich als Kind begonnen habe bis hin zum Erwachsenen, der sich selbst akzeptieren und lieben kann, wie er ist.

Dieser Weg hat begonnen, als ich ungefähr zwölf war, vielleicht auch schon früher. Aber das ist das Alter, das mir prägend in Erinnerung geblieben ist. Auf jeden Fall ist die Reise noch nicht zu Ende, aber ich habe das Gefühl, das ich einen wichtigen Meilenstein hinter mir lassen konnte.

Der Weg

Von Anfang an …

Ich wurde als Kind gemobbt – schlimm gemobbt, aber ich denke das empfinden alle Kinder so, die drangsaliert wurden.
Meine Familie ist in den Ort, in dem ich aufgewachsen bin, zugezogen und alleine das war schon ein Grund mich argwöhnisch zu beäugen. Als Scheidungskind war meine Mutter immer mehr meine Bezugsperson gewesen als mein Vater.

Mir ist nicht ganz klar wie Grundschulkinder zu solchen einschätzungen gekommen, aber ich wurde schon von der ersten Klasse an als „Schwuchtel“ oder „homo“ bezeichnet. In einem kleinen Ort findet man da dann auch nicht mehr viel Anschluss oder Möglichkeiten soetwas aus dem Weg zu gehen. Zu der psychischen Gewalt gesellte sich dann auch die Physische. Oft bin ich mit Prellungen, Quetschungen oder anderen Wunden nach Hause gekommen, ein paar Narben begleiten mich auch heute noch.

Mit ungefähr zwölf Jahren, habe ich dann angefangen hin und wieder Kleider meiner Mutter anzuziehen, wenn sie nicht zuhause oder in der Nähe war. Ich habe mir dann vorgestellt ein Mädchen zu sein, weil in meiner Wahrnehmung Mädchen in Ruhe gelassen wurden. Vermutlich war das auch nicht so, aber so habe ich das damals empfunden.

Erst später hat mich dann diese andere Kleidung erregt. Es hat zuhause ganz schön Ärger gegeben, als aufgefallen ist, das ich immer wieder mal Kleider geräubert habe.

Die Jugend

Das Mobbing hat auch in der Sekundarstufe I angehalten. Aber ich lernte meine erste Freundin kennen, die mich gelegentlich schminkte. Das war auch die Zeit, in der ich meinen Eltern eröffnete, das ich metrosexuell leben möchte – die Reaktion war niederschmetternd. Von „du bist nicht metrosexuell“ bis zu „das darfst du nicht“ war alles dabei. Im Nachhinein wird mir erst klar, wie ambivalent diese Situation war, denn erst wurde mir gesagt, das ich immer zu mir stehen soll, damit das Mobbing mich nicht bricht – und dann war das, wie ich war, wie ich sein wollte, auch nicht richtig.

Saki Hanajima musste wegen Mobbing sogar die Schule wechseln.
(Anime: Fruits Basket 2020)

Nach dieser Erfahrung, da war ich ungefähr 15, zog ich mich in das Internet zurück. Zwar wurde ich hier auch in meinem Lieblingsspielen von den gleichen Kids verfolgt, die mich auch über den Dorfplatz jagten, aber in die Crossdress-Communities wagten sie sich nicht. Hier traf ich Leute, die mich und mein Bedürfnis verstanden und die mich darin bestärkten, mich entsprechend zu kleiden – vielleicht aber auch, weil sie sich einfach über die Bilder freuten, die man selbstverständlich in solchen Communities teilte. Je mehr Zuspruch ich erhielt, desto klarer wurde für mich, das ich am Liebsten ständig als Mädchen leben würde. Ich fing an, jede Gelegenheit dafür wahrzunehmen und fühlte mich in meinem Körper und meiner aufgezwungen Rolle als Junge immer unwohler.

Nach einer ganzen Weile hatte ich dann ein einschneidendes Erlebnis mit meiner damaligen Freundin. Sie gab mir zu verstehen, dass sie mich nicht mehr liebte, weil ich in ihren Augen nicht männlich genug war. So trennten sich unsere Wege und ich blieb verletzt alleine zurück. Das Bedürfnis als Frau zu leben und mich weiblich zu fühlen verschwand recht schnell. Danach brach ich auch alle Verbindungen in die Communities ab. Ich schämte mich und war mit mir selbst alles andere als glücklich.

Nach dem Mobbing

Zu der Zeit endete auch die große Mobbingphase und ich besuchte die Sekundarstufe II. Nachdem ich alles entsorgt hatte, was ich zu dem Zeitpunkt an Frauenkleidern und Schuhen hatte, begann jetzt eine Phase, in der ich keine Zeit hatte um über soetwas nachzudenken. Ich musste arbeiten, lernen mich zurecht finden. Erst zum Ende meines Abiturs hatte mich mein Bedürfnis nach mehr Weiblichkeit wieder eingeholt. Auch mit meiner Exfreundin kam ich wieder zusammen. Die Wendung sollte hier noch dramatischer werden.

Ritsu Souma hat auch eine Mutter, die das Bedürftnis hat, sich durchgehend für ihr Kind zu entschuldigen.
(Anime: Fruits Basket 2020)

Wie auch bei unserer ersten Beziehung unterstütze sie mich anfangs. Auch ihre Mutter stand mir mit viel Freude, Rat und Tat zur Seite. Ich traute mich, meine Fingernägel nude-farben zu lackieren und war mit Freunden meiner Eltern und meinen Eltern zum Essen in einem Restaurant verabredet. Kaum angekommen, ist meiner Mutter aufgefallen, das ich unauffälligen Nagellack trug. Im Restaurant, vor den Freunden meiner Eltern, wurde ich zusammengestaucht, wie ich das noch nie erlebt hatte. Wie respektlos ich sei, das ich auch an meine Familie zu denken habe, denn schließlich habe man einen Ruf zu verlieren. Etwas demütigenderes habe ich in meinem, bis dahin an Demütigungen reichen Leben, noch nicht erlebt. Auch hier zog sich der Wunsch nach Weiblichkeit schlagartig zurück und hinterließ nur Angst, Unsicherheit und Leere.

Kurze Zeit später ging auch meine Beziehung in die Brüche, erneut. Sie empfand mich immernoch als zu wenig männlich und hatte mehr gefallen an meinem damaligen besten Freund gefunden, der in ihren Augen männlicher war. Beide gaben mir den Rat, die Chance doch zu nutzen und mal etwas mit einem Mann anzufangen.

Die Flucht

Nach diesem Erlebnis hielt ich es nicht mehr aus. Alles zuhause erinnerte mich an das Mobbing, an das Unterdrücken meiner Gefühle, an den Schmerz. Mir kam die Einberufung zur Wehrpflicht gerade recht. In den ersten drei Monaten blieb mir gar keine Zeit, als mich müde und männlich zu fühlen. Erst nach der Grundausbildung, als ich verletzungsbedingt einen ruhigeren Alltag hatte, kamen diese on-/off-Gefühle wieder zurück. Ich suchte Kontakt zu den alten Communities und beschloss, nicht mehr nach Hause zurückzukehren, zumindest nicht für lange.

Ryou (links) lebt einen großen Teil seines Lebens als Frau
(Anime: Skirt no Naka wa Kedamono Deshita)

Ich fand einen Studiengang und eine Arbeitsstelle, so das ich kurze Zeit nach der Wehrpflicht in einer eigenen Wohnung lebte und für mich beschloss, dass ich meine weibliche Seite nie wieder verleugnen will.
In der neuen Umgebung dauerte es auch nicht lange, bis ich jemand neues kennen lernte – und meinem Vorsatz nach, erzählte ich auch von vorne herein von meiner Neigung Frauenkleider zu tragen. Das ich zu dem Zeitpunkt mit meinem Körper und meinem Geschlecht unglücklich war, verschwieg ich. Aber zumindet hatte ich mir da schon das erste Ohrloch stechen lassen. (Pro Tipp: lasst euch direkt zwei stechen, sonst sieht das Outfit unsymmetrisch aus)

Aber auch in den folgenden Jahren war es ein auf und ab. Das Bedürfnis nach Weiblichkeit wechselte sich inzwischen tageweise mit dem Bedürfnis nach Männlichkeit ab. Ein Mittelweg war für mich schwierig. Zu der Zeit sammelte ich, nach den anderen, hier nicht aufgeführten, Eskapaden, auch meine ersten Erfahrungen mit einem Mann. Nach einer sehr intensiven Phase von Weiblichkeit, neuen Erfahrungen und meiner Verlobung, verschwand dieser Drang urplötzlich wieder. Andere Dinge waren wichtiger geworden und verdrängten das aktive Bedürfnis und hinterliessen nur ein unterbewusstes Gefühl von Unzufriedenheit.

Verdrängung

Meine Weiblichkeit verlagerte sich immer mehr in den sexuellen Bereich. Es wurde ein Fetisch, bei dem ich glücklich war, wenn ich „die Frau“ sein durfte und Reizwäsche trug. Darüber hinaus, war davon nicht mehr viel zu spüren. Es folgte aber dem üblichen Kaufen/Wegwerfen-Muster, das einige von euch sicherlich auch kennen. Irgendwann reichte aber auch der Fetisch nicht mehr. Da ich aber mittlerweile nicht mehr den Körper eines 18 jährigen hatte, wurde die Kleidersuche immer schwieriger, immer frustrierender. Da ich in den Communities immer in sexualisierter Weise bestätigt wurde, war mein Geschmack auch entsprechend geprägt. Das die Communities heute immernoch so sind, sehe ich häufig auf Instagram, wo Crossdresser aussehen, als wären sie gerade auf dem Weg zu einem Kunden – oder auch schon wieder auf dem Rückweg. Immer mehr manifestierte sich in mir eine Ablehnung gegen eine solche Darstellung.

Mikoto Yutaka schämt sich häufig und empfindet seine Verpflichtung als Bürde – seiner Freundin verschweigt er die Frauenkleider sehr lange.
(Anime: Princess Princess)

Wieder war ich mit mir selbst unzufrieden. Ich wollte nicht übersexualisiert aussehen, wusste aber auch keinen anderen Kleidungsstil. Außerdem hatte ich über meine Fetisch-Zeit mir selbst wieder das Gefühl anerzogen, das diese Weiblichkeit etwas verbotenes ist, etwas, das nur in den intimsten Bereich gehört, den es gibt.

Darüber mit meinem Freundeskreis, der eigentlich bescheid wusste, zu reden, viel mir wieder schwerer. Ich wurde gereizter und unglücklicher, denn ich fühlte mich selbst in mir eingesperrt – und dieses mal war niemand da, dem ich die Schuld geben konnte, außer mir selbst. Und auch wenn ich meine Therapie abgeschlossen habe, zu dem Zeitpunkt habe ich immer wieder mal depressive Episoden erlebt – vermutlich auch deswegen.

Befreiung

Erst mit der Geburt unseres Kindes, wurde mir klar, das ich mich mit dem Thema wieder offensiver auseinandersetzen muss. Denn Kinder spüren, wenn die Eltern etwas belastet und etwas vor ihnen verbergen.
Als ich jünger war, hatte ich einmal eine Folge von Richterin Barbara Salesch gesehen, in dem eine Familie fast zerbrach, weil die Tochter eine Reisetasche mit Frauenkleidern, Parfüm und einem Zettel mit einem Frauennamen und einer Handynummer gefunden hatte. Sie vermutete, das ihr Vater fremd ging und hatte dann ein Familiendrama ausgelöst, das bis vor Gericht ging. Die Auflösung war aber, das der Vater selbst diesen Frauennamen trug und heimlich als ebenjene Dame ausging, ohne das die Familie das wusste.

Diese Erinnerung hallt bis heute in mir nach. Ich möchte nicht, das mein Kind in diese Situation kommt und ich will nicht, das es lernen muss, sich selbst für andere zu verbiegen.

Mit dem Entschluss, habe ich mich näher mit mir selbst beschäfigt und festgestellt, das es eine Erklärung für meine Empfindungen gab. Ich bin genderfluid, ich schwinge zwischen den binären Geschlechtern hin und her, manchmal bleibe ich auch dazwischen stehen. Hätte ich früher damit auseinandergesetzt, hätte ich vielleicht früher einen inneren Zustand der Akzeptanz erreichen können.

Auf jeden Fall habe ich mich getraut und seitdem mein Outfit verändert. Mein Ziel ist es nicht mehr möglichst eine Frau zu sein, sondern einfach ich selbst zu sein. In den letzten zwei Wochen habe ich mich getraut, und ein Outfit zusammengestellt, in dem ich mich sowohl als Frau als auch als Mann wohlfühlen kann und gehe seitdem auch so einkaufen oder zur Familie. Ich trage im Normalfall jetzt immer eine Umhängetasche und pflege mich mehr.

Nicht alles davon hat etwas auf der Arbeit zu suchen, aber manche Sachen eben schon. Meine Körperpflege geht ja schließlich niemanden etwas an 😉

Fazit

Der K-On! Club unterstützt sich auch gegenseitig und teilt schöne wie schwierige Momente!
(Anime: K-On!)

Der Weg bis hierhin war lang und schmerzhaft. Jeder einzelne Schritt war wichtig, damit ich zu dem Menschen werden konnte, der ich jetzt bin.
Sich noch einmal alles durch den Kopf gehen zu lassen, macht mir klar, wie schwer es Menschen haben, die aus der Norm fallen – und lässt mich mit der Frage zurück, wie es den Menschen gehen muss, die andere so sehr drangsalieren, nur weil sie anders sind als sich diese Menschen das vorstellen.

Ich habe weitaus mehr erlebt, als ich es jetzt hier niedergeschrieben habe und auch sicherlich selbst schon Dinge getan, die andere verletzt haben.

Um so mehr bin ich froh, das ich eine so tolle, unterstützende Partnerin habe, ohne die ich diesen Weg sicherlich nicht hätte bestreiten können. Ich danke dir!
Auch meinen anderen Freunden, die immer für mich da waren und die mir den Rücken stärken, möchte ich danken. Ihr seid die Besten!

Eure
Bina

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